NARKOSE UND GEHIRN – DOCH NICHT SO HARMLOS?

von Prim. Univ.- Prof. Dr. Walter Hasibeder

In den letzten Jahrzehnten häufen sich experimentelle und klinische Daten, die klar auf z.T. dramatische neurotoxische Effekte von Anästhetika hinweisen. Retrospektive Observationsstudien aus der Kinderanästhesie, in allerdings kleinen Patientenkollektiven, weisen auf mögliche Lerndefizite durch anhaltende Gedächtnisstörungen nach Verabreichung von Allgemeinanästhesien im frühen Kindesalter hin.

Als Beispiel sei hier die “Rochesterstudie” aus den Jahren 1976-1982 erwähnt. Teilnehmende Kinder, die vor dem 2. Lebensjahr bereits mehrfach Allgemeinanästhesien erhalten haben, zeigten in dieser Studie gegenüber einer entsprechenden Vergleichspopulation ohne Anästhesie ein deutlich erhöhtes Risiko für das Auftreten von Lernstörungen im Schulalter (Risikoerhöhung um das Doppelte!!). Im Tierexperiment verursachen alle Hypnotika nachweisliche Schädigungen im zentralen Nervensystem! Propofol, Etomidate, Sevoflurane, Desflurane, Isoflurane sind alles Substanzen deren hypnotische Wirkung durch eine zentrale Erhöhung der γ-Aminobuttersäure zu erklären ist, verursachen Apoptose (= programmierter Zelltod) von Neuronen und Oligodendrozyten im Fetalen und Neugeborenen Gehirn von Primaten. Auch Ketamin, ein pharmakologischer Blocker des exzitatorischen Glutamat-Rezeptors verursacht am sich entwickelnden Primatengehirn lang anhaltende Gedächtnis – und Aufmerksamkeitsstörungen. Faktoren, die das Ausmaß der Gehirnstörung und der Gehirnschädigung mitbestimmen sind das Alter des Organismus bei Exposition, sowie die Dauer und Menge der verabreichten Substanzen. Die bisherigen Daten veranlassen sowohl die Amerikanische Gesundheitsbehörde als auch die International Anesthesia Research Society (IARS) ganz klar dazu vor unnötigen und aufschiebbaren chirurgischen Eingriffen in Allgemeinanästhesie, bei Kindern unter 3 Jahren, zu warnen (www.smarttots.org/resourcec/consensus.html)!

Ich halte es in diesem Zusammenhang aber auch für sehr wichtig auf die potentiell neurotoxischen Effekte einer zu tiefen Hypnose im Erwachsenenalter hinzuweisen. In den letzten Jahren mehren sich die klinischen Studien, die vor allem beim alternden Gehirn nach Allgemeinanästhesie funktionelle (= Gedächtnisstörungen bis hin zur Demenzprogression) als auch strukturelle (=Beschleunigung der Gehirnatrophie bei beginnender Alzheimer Demenz) hinweisen. Im Bereich der Intensivmedizin mehren sich die Studien, welche direkte Zusammenhänge zwischen der Sedierungstiefe und der Wahrscheinlichkeit der Entwicklung eines akuten Delirs bzw. auch einer erhöhten Sterberate nach Intensivaufenthalt verweisen. In diesem Zusammenhang sei auf eine jüngst publizierte Untersuchung von Andresen JM et al. (Crit Care Med 2014;42:2244-2251) hingewiesen, die zeigten, dass eine pharmakologische Unterdrückung der elektrischen Hirnaktivität auf der Intensivstation, das Risiko für für Delirentwicklung zeitabhängig erhöht. Dabei ging eine Unterdrückung der elektrischen Gehirnaktivität (=burst suppression) von nur 6,4 Minuten bereits mit einem deutlich erhöhten Risiko für Delirentwicklung einher.

Nach meiner klinischen Erfahrung fürchten sich AnästhesistInnen noch immer viel zu viel vor der intraoperativen “Awareness” (= Aufwachen bei der Narkose) und viel zu wenig vor postoperativen kognitiven Dysfunktionen und langanhaltenden zerebralen Dysfunktionen. Auch im Intensivbereich ist häufig für ÄrztInnen und Pflegepersonal der tief analgosedierte Patient noch immer der” beste” Patient.

Für mich persönlich ist die Datenlage gegen eine zu tiefe Hypnose im OP bzw. auch gegen zu tiefe Analgosedierung auf den Intensivstationen bereits erdrückend. Ich denke daher, dass es mehr als an der Zeit wäre, im OP verlässliche Monitore zur Erfassung der Narkosetiefe zunächst im Bereich der Kinderanästhesie verpflichtend, z.B. über den Österreichischen Strukturplan Gesundheit, einzufordern.

Im Bereich der Intensivmedizin muss ein flächendeckendes Sedierungsmonitoring wie z.B. die “Richmond Agitation and Sedation Scale” österreichweit eingeführt werden. Tägliche Sedierungsziele sind ärztlicherseits vorzugeben und zu begründen. Die Sedierungstiefe ist regelmäßig zu evaluieren und zu dokumentieren. Häufige Abweichungen zwischen Sedierungszielen und tatsächlich gemessenen Sedierungsgraden sollten, nach meiner Meinung, als Qualitätsparameter bei der Evaluierung intensivmedizinischer Leistungen im Rahmen von z.B. AIQI-Audits herangezogen werden.

Literatur:

Anesthetic Neurotoxicity – Clinical implications of animal models. Rappaport BA, et al. NEJM 2015; 372:796-797

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